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All We Need Is Silence

All We Need Is Silence
Label: Virgin / EMI
Release date: 2005-09-05
Verlorene Gefühle: Die famosen Slut aus Ingoldstadt haben ihren melodiösen Indierock jahrelang der amourösen Romantik gewidmet. Auf dem neuen Album «All We Need Is Silence» wird nun plötzlich die dunkle Seite der Liebe besungen. Verstorbene Hoffnung als Nährboden für einen Neuanfang?
Slut ist kein feiner Ausdruck. Defintitiv nicht. Slut heisst zu Deutsch Schlampe, und von da ist der Weg zur Bitch und den tiefen Schimpfwörter-Abgründen nicht mehr weit. Umso erstaunlicher ist deshalb die Tatsache, dass sich die Gruppe, die sich mit diesem Namen «schmückt», in ihren Songs weder um miese Weibsbilder noch um die kaputten Sextriebe der modernen Gesellschaft kümmert. Im Gegenteil. Die Fünferbande aus Ingoldstadt hat auf jedem der vier bisherigen Alben das hehre Gut «Liebe» zu ihrem obersten und wichtigsten Thema erhoben. Meist gings da, den zwischen verträumter Melancholie und rotziger Zuversicht schwankenden Melodienläufen entsprechend, um eine «amour fou», um die kleinen Leiden im grossen Glück, oder – wie auf der Hymne «Easy To Love» – einfach um eine mit moderner Urbanromantik angereicherte Liebeserklärung. Das ungeschriebene Slut’sche Gesetz, das jeder dieser vier Platten zugrunde lag, war offensichtlich: egal wie wild die emotionale Achterbahnfahrt sein mochte, welche die Band in die Gehörganglien katapultierte – am Ende obsiegte stets so was wie Zuversicht.

Seit kurzem steht nun das jüngste Album in den Regalen. Es heisst «All We Need Is Silence» – und nicht nur der Titel manifestiert einen derart radikalen Kontrast zum bisherigen Œuvre, dass man nicht umhin kommt, Sänger und Texter Chris Neuburger gleich zu Beginn des Gesprächs mit jener Frage zu konfrontieren, die gemeinhin als «Interview-Killer» gehandelt wird: «Herr Neuburger, ist ‹All We Need Is Silence› das letzte Slut-Album?» Dass das Gespräch kein abruptes Ende findet, zeigt, dass die Frage nicht weit an der Wirklichkeit vorbeizielte. «Es ist bestimmt die letzte Platte in dieser Art», erklärt Neuburger, und dabei glaubt man aus dem bayrischen Akzent gar ein bisschen Wehmut herauszuhören. «Wir haben versucht, uns diesmal aufs absolut Wesentliche zu konzentrieren. Mehr ist in diesem Schema nicht mehr möglich.»

Umgesetzt haben Slut dieses «Reduced To The Max» sowohl auf der strukturellen als auch auf der Song-technischen und lyrischen Ebene. So pendelt das Gros der bloss zehn Songs zwischen einer Spieldauer von 3 bis 4 Minuten; das ganze Album kommt nicht mal auf eine Länge von 38 Minuten – in der heutigen Zeit eher die Ausnahme denn die Regel. Dieses bewusste Setzen eines klaren zeitlichen Limits spielt den Stücken aber durchaus in die Karten, sprich in die Qualität. Einerseits öffnet sich die Türe zum magisch-elegischen Geheimnis des Slut-Universums rascher als bisher; andrerseits kommt so die typische, vom saitenstarken Gitarrenmotor angetriebene Power dieser Band dringlicher und fesselnder zur Geltung. Auch wirkt die Musik entschlackt, von allzu abwegigen Experimenten befreit – gleichsam aber auch irgendwie unbarmherziger als bisher. Kurze Songs, rotzige Gitarren, trist-raue Stimmung – das erinnert an die neopopulären Punk-not-Punk-Statements von Franz Ferdinand oder Interpol. «Nein», entgegnet Neuburger vehement. «Wir würden uns niemals einer Strömung hingeben. Zudem habe ich seit bald zwei Jahren keine Platten und CDs mehr gekauft. Ich höre zu Hause kaum Musik, wohl weil ich das Gefühl habe, das würde mich bei meiner Arbeit stören oder beeinflussen.»

Nun, Chris Neuburger war schon immer ein eigenwilliger Charakter; eine besondere Type, wie man sie im oft abgestumpft wirkenden Musikgeschäft nicht alle Tage trifft. Ein feinfühliger Mann auch, der seine Affinität zu andern schöngeistigen Disziplinen, insbesondere der Literatur, nicht verhehlen will. Dies zeigt sich beispielsweise darin, dass er Gottfried Benn erwähnt, wenn es darum geht, dem Naturell seiner jüngsten Lyrik auf die Spur zu kommen. Benn, das war ein Säulenheiliger des deutschen Expressionismus, ein Apokalyptiker, der im Schauerlichen das Schöne sah und dies mit urkräftigen, fragmentarisch skizzierten Bildern zum eindrücklichen Ausdruck brachte. Und tatsächlich – wer Neuburgers aktuelle Verse analysiert, findet keine Geschichten mehr, sondern bruchstückhafte Sätze, eingefrorene Augenblicke – an deren Ende, dies als frappante Antidoktrin zu früher, meist eine Resignation nachhallt. Es sind Aussagen wie «Let’s make war instead of love», «We gotta get prepared for the next separation» oder «We waste our love on wasted matters», die, mal sanft gesungen und mal wütend geschrien, verschüttete und verlorene Emotionen und eine Verzweiflung ob des Status Quo mehr als nur andeuten.

«All We Need Is Silence», sagt Neuburger, sei ein Plädoyer gegen den medialen Overkill dieser Tage. Gegen die ständige Berieselung von meist nutzloser Information. Ein Rückzug aus der lautesten Welt, die es je gab. Eine Rückbesinnung auf Ruhe und Stille. Ein Abschied. Ein Abschied für immer? «Das glaub ich nicht. Vielleicht ist dies der beste Boden für einen Neuanfang.»